Was zeichnet einen neutralen Staat aus?
Laut dem im Jahr 1907 kodifizierten Neutralitätsrecht hat ein neutraler Staat im Falle eines internationalen bewaffneten Konflikts zwischen Staaten die Pflicht zur Unparteilichkeit und Nichtteilnahme. Das heißt, dass der neutrale Staat den Kriegsparteien weder Soldaten noch sein eigenes Territorium zur Verfügung stellen darf. Zudem muss es die kriegsführenden Parteien im Hinblick auf den Export von Rüstungsgütern gleich behandeln. Darüber hinaus darf ein neutraler Staat keinem Militärbündnis beitreten. Im Gegenzug erhält er das Recht der Unverletzlichkeit des Staatsgebiets.Die Neutralität der Schweiz hat ihren Ursprung im Wiener Kongress von 1814/1815, als es nach den Koalitionskriegen und der Niederlage Napoleon Bonapartes zu einer Neuordnung in Europa kam. Den Siegermächten Russland, England, Preußen und Österreich erschien eine neutrale Schweiz als die sinnvollste Lösung. So gaben die Siegermächte und das besiegte Frankreich der Schweiz die Garantie, ihre Integrität und Unabhängigkeit zu achten. Die Schweiz verpflichtete sich wiederum dafür, in künftigen Konflikten neutral zu bleiben. Diese Neutralität blieb über Jahrzehnte bestehen, wenn sich auch Auslegung und Interpretation dieser Neutralität über die Jahre hinweg immer wieder veränderten.
Neutralität in der Praxis – Das Verhältnis der Schweiz zu internationalen Organisationen
Heutzutage ist die Schweiz Mitglied in verschiedenen internationalen Sicherheitsorganisationen, wie etwa der OSZE und der UNO. Die Mitgliedschaft in derart Organisationen ist mit der Neutralität vereinbar, solange es sich nicht um Militärbündnisse handelt, bei welchen die Schweiz im Falle eines internationalen bewaffneten Konflikts zum Beistand verpflichtet wäre.Der UNO trat die Schweiz erst im Jahr 2002 nach einer erfolgreichen Volksabstimmung bei. Eine vorherige Volksabstimmung zum UNO-Beitritt war im Jahr 1986 noch gescheitert. Als Folge der UNO-Mitgliedschaft muss die Schweiz nun auch UNO-Sanktionen nachvollziehen und ist verpflichtet, deren militärischen Sanktionen zumindest nicht zu behindern.
Ein NATO-Beitritt wäre für die Schweiz hingegen nicht möglich, da es sich hierbei in erster Linie um ein militärisches Bündnis handelt und somit die Schweiz durch einen Beitritt ihren Neutralitätsstatus verlieren würde. Die Eidgenossenschaft ist jedoch seit 1996 im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden, kurz PfP, ein NATO-Partnerland. Aller Voraussicht nach fände ein Beitritt zur NATO auch keine Mehrheit in der Schweiz. Bei einer im Jahr 2022 durchgeführten Befragung waren nur 26 Prozent der befragten Schweizer der Meinung, dass die Eidgenossenschaft zur Wahrung ihrer Interessen der NATO beitreten solle.
Die Neutralität der Schweiz vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs
Als am 24. Februar 2022 Russland in die Ukraine einmarschierte und daraufhin eine Vielzahl von Staaten, etwa die USA und die Länder der EU, harte Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängten, fiel auch in der Schweiz die Frage nach Sanktionen. Anfangs blieb die Schweiz noch zurückhaltend, doch nur wenige Tage später, auch auf Druck anderer westlicher Staaten, schloss sich die Schweiz den EU-Sanktionen gegen Russland an. Begründet wurde dies damit, dass eine Passivität der Schweiz vor dem Hintergrund der Aggressionen Russlands nicht neutral wäre, da Russland elementare Völkerrechtsnormen verletze. Im Jahr 2014, als Russland die Krim annektierte, hatte sich die Schweiz mit Sanktionen noch zurückgehalten und lediglich dafür gesorgt, dass EU-Sanktionen gegen Russland nicht über die Schweiz umgangen werden konnten. Die nun Ende Februar 2022 verhängten Sanktionen gegen Russland werden von der Mehrheit der Schweizer nicht als ein Widerspruch zur Neutralität der Schweiz gesehen. Gleichzeitig wünschen sich knapp zwei Drittel der Schweizer, dass die Schweiz wie bereits in anderen Konflikten eine Vermittlerrolle im Ukraine-Krieg einnimmt. Ein Gesetz, das eine Ausnahmeregelung zur Weitergabe von Schweizer Waffen und Rüstungsgütern durch Drittländer an die Ukraine ermöglicht hätte, wurde hingegen im Juni 2023 vom Schweizer Parlament abgelehnt. Mit 98 zu 75 Stimmen wies das Parlament den auch als „Lex Ukraine“ bezeichneten Gesetzesentwurf ab. Die Diskussion um eine Änderung des Kriegsmaterialgesetzes geht jedoch weiter. Im Parlament werden aktuell verschiedene Vorlagen beraten, die sich ebenfalls mit einer Lockerung dieses Gesetzes befassen.Die militärische Wehrhaftigkeit der Schweiz
Angesichts des Russland-Ukraine-Kriegs wurde auch vermehrt die militärische Wehrhaftigkeit der Schweiz diskutiert. Politiker aus den Reihen der FDP und SVP forderten eine Aufstockung des Armeebudgets und des Truppenbestandes. Auch bei einer Bevölkerungsbefragung im März 2022 sprach sich rund ein Drittel der Befragten für eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben aus. Im Juni 2022 entschied dann der Ständerat, das Armeebudget bis zum Jahr 2030 auf ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) anzuheben. Dies würde – abhängig von der zukünftigen Entwicklung des BIP – einem Budget von etwa 9 Milliarden Schweizer Franken entsprechen. Tatsächlich sind die Militärausgaben in der Schweiz bereits in den vergangenen Jahren stetig gestiegen und lagen zuletzt bei 5,87 Milliarden Schweizer Franken. Sie beinhalten alle Ausgaben für die Streitkräfte, für das Verteidigungsministerium, für paramilitärische Verbände und für Rüstungsprojekte. Im Verhältnis zum BIP hat sich bei den Militärausgaben jedoch nur wenig verändert. Im Durchschnitt betrugen die Militärausgaben in den vergangenen zehn Jahren rund 0,7 Prozent des BIP. Andere Staaten geben einen weitaus höheren Anteil ihres BIP für militärische Aufrüstung aus.Versorgungssicherheit der Schweiz - Abhängigkeit von russischem Gas
Wie die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz, rückte im Zusammenhang mit dem Russland-Ukraine-Krieg auch ihre Abhängigkeit von Energieimporten in den Fokus der Öffentlichkeit. Russland gehört zu den größten Öl- und Gasexporteuren der Welt. Die Schweiz bezieht zwar kein Erdöl direkt aus Russland, beim Erdgas sieht es jedoch anders aus. Bei insgesamt 43 Prozent lag im Jahr 2021 der Anteil von russischem Gas an den direkten Erdgasimporten der Schweiz. Rund 20 Prozent der Schweizer Haushalte heizen mit Gas und auch für die Wirtschaft ist Gas als Energieträger unverzichtbar. Damit lässt sich eine gewisse Abhängigkeit von Russlands Gaslieferungen nicht bestreiten und ein Gas-Lieferstopp Russlands würde die Schweiz hart treffen.Die Preise sind zudem bereits in den Monaten vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine stark gestiegen. Grund dafür war vor allem der Konjunkturaufschwung in vielen Ländern nach Beendigung der im Rahmen der Corona-Krise verhängten Lockdowns. Im März 2023 lagen die durchschnittlichen Gaspreise je nach Verbrauchertyp zwischen 16,85 und 18,09 Rappen pro Kilowattstunde. Noch im September 2021 musste kein Verbraucher im Durchschnitt mehr als 10 Rappen für eine Kilowattstunde Erdgas bezahlen.
Die Schweiz und Europa könnten auf andere Lieferanten ausweichen, wie etwa die USA oder Katar, die den Energieträger in flüssiger Form exportieren. Doch kurzfristige Einkäufe größerer Kapazitäten am Markt sind derzeit nicht möglich. Daher kann die Schweiz nur mittelfristig ihre Abhängigkeit zu russischem Erdgas verringern.